Der Ort, an dem Steine sprechen – die magische Welt des Markus Krüger
Wie eine Botschaft aus einer anderen, uns nicht bekannten Welt liest sich die erste Niederschrift Markus Krügers „Dezember 1995 erste Begegnung mit unbekanntem Terrain / Gefühle von Unsicherheit / Neugierde / erste Erkundungen …“
Was für eine Welt sich für den Künstler vor einigen Jahren auftat, klingt – heute gelesen – wie der Beginn einer Expedition, einer Suche mit bestimmtem, möglicherweise auch unbestimmtem Ziel. „Monate sind vergangen seit der ersten Begegnung / magischer Ort / immer wieder fasziniert / faszinierter als zuvor…“
Unweit vom eigenen Atelier fand der Maler, Zeichner und Photograph eine faszinierende materielle Welt, die er zum ersten Mal im Kunstverein Lippstadt vorstellt. Die „Überwelt“, der der Künstler vor einiger Zeit begegnete, existiert auch heute noch und ist zu lokalisieren: südlich von Lippstadt zwischen Erwitte und Anröchte.
Seit Dezember 1995 verlegte Markus Krüger sein Atelier oft nach draußen, beging, wie eine große Zahl von Photographien zeigt, immer wieder seinen „magischen Ort“, um sich dem auszusetzen, was ihn seither bewegt: Das Beobachten einer stillen, doch gewaltigen Gebär- de, die in dieser Eindringlichkeit nur möglich ist in einem Niemandsland, ohne Menschen, Maschinen und Zeit – in der Lautlosigkeit. Der „magische Ort“ als eine Ansammlung materiel- ler, visueller und emotionaler Werte, ein Ort, an dem die Steine sprechen mögen, eine Welt, in der Stille und Spannung gleicherweise existieren. Und so bemerkt der Künstler: „Drehung / Lichteinfall / Lichtbewegung über dem Dunkel / mediterranes Grün / Verschiebungen / horizontaler Spalt / wandernde Schatten / Überlagerungen / Geräusche im Boden aus Zeit / herabsinkende Dunkelheit / Wolkenjagen / Einsamkeit …“.
Die „Steinzeiten“ begannen für Markus Krüger nach Feierabend der am „magischen Ort“ Arbeitenden – am Wochenende, vornehmlich sonntags. Bis zur Mitte der 90er Jahre bezogen sich Krügers Arbeiten vor allem auf die Gestaltung von Bildfläche; seine großformatigen Arbeiten in Mischtechnik strukturierten die Bildtotalität im Modus einer gestisch-malerischen Bildsprache. Diese formal-ästhetische Bildwelt hat nun in den letzten Jahren eine zusätzliche inhaltliche Dimension erhalten, nämlich die Spurensuche. Die Ausstellung im Kunstverein Lippstadt dokumentiert dies in eindringlicher Weise: Neben Gedankenprotokollen finden sich in ihr Zeichnungen, Materialbilder, Schriftbilder, rein malerische Werke, ein Großblock mit Photographien sowie ein gewaltiges Ensemble aus Steinen. Die Protokolle entstanden im Steinbruch vor Ort ebenso wie die Photographien, während die Zeichnungen und sonstigen Bilder ihre Entstehung dem Atelier verdanken.
Die fünfteilige Arbeit „Begegnung“, die 1994/95 datiert ist, steht am Anfang der neuen Werkphase. Sie deutet schon an, was zukünftig kommen wird. Diese Malerei bezieht ihre Spannungsmomente aus der Synthese von Farbe und Linie. Das Farbspektrum ist reduziert, in ihm finden sich graue, ockerfarbene, sienabraune, weiße und schwarze Werte. Die Flächen werden – wie in den frühen Bildern Krügers – aufgebrochen und unterliegen einer starken linearen Struktur: Bewegung durch den Strich, Aktion im Bildgesamt.
In der aktuellen Arbeitsphase entstanden Ende Dezember 1995 und Beginn 1996 Arbeiten auf Leinwand und Papier, in denen eine neue Entwicklung sichtbar wird: malerische und graphische Elemente werden zur Schrift zusammengefügt. Radikalisiert wird diese Tendenz in Krügers reinen Schriftbildern. Ausgehend von den im Steinbruch entstandenen Aufzeichnungen beanspruchen sie jedoch auch Autonomie als kontextunabhängige Werke, in denen sprachlich Nachvollziehbares oder auch „sprachlose“ Schriftfragmente alleinbestimmende Bildkategorien sind.
Parallel zu den Schriftbildern finden sich solche Werke, die eindeutig zum Kontext Steinbruch gehören. In der Erinnerung an das Gesehene werden hier vertikale, horizontale und diagonale Zeichen ansichtig. Diese Arbeiten erscheinen in erster Anschauung abstrakt, also losgelöst; im Kontext der Ausstellung gewinnen sie ihr „Quellengebundensein“ jedoch zurück, haben also ihren Grund. Dies gilt ebenfalls für die schöne, reduzierte Arbeit „Fixierte Zeit“, die ihren Bezug eindeutig von den Gedankenprotokollen ableitet. Das zentrale Zeichen des Werkes besitzt in den Protokollen einen rein marginalen bildlichen Ausdruck mit dem Charakter eines Graffitos.
Die Arbeit „Steinzeiten“ (Steinfeld-Bildfeld 1995-1998) ist das Herzstück der Installation und bildet das Zentrum der Ausstellung. Hierbei geht es um den spannenden Dialog von erinnernder Photographie und Aktualität des Steinensembles. Markus Krüger hat aus ca. 1500 Photographien, die seit Ende 1995 in verschiedenen Steinbrüchen entstanden sind, 125 Abzüge entlang der längsten Wand des großen Ausstellungsraumes installiert und davor – auf ebenem Boden- ein Feld aus unterschiedlich großen Kalksteinen in Form eines langgezogenen Rechtecks ausgelegt. Beide Medien verdanken in der Kunst Krügers ihre Existenz der Erinnerung und Sammlung. Der große Photo-Block thematisiert in vielen Detailaufnahmen Versatzstücke aus der irdisch-materiellen Welt des Steinbruchs, ohne Menschen und weitgehend ohne Maschinen. Das Arbeiten im Steinbruch selbst steht hier nicht im Vordergrund. Die „Überwelt“ Steinbruch ist bewusst in kleinen Welten nachempfunden, in schwarz-weiß, um so die akzidentielle Farbe auszuschalten – das Wesentliche des Gesehenen zu filtern, war das Thema.
Geht man aufmerksam an dieser Photoserie entlang, so wird man gewahr, warum diese Steinwelt für das Künstlerauge Krügers eine solche Faszination ausübt. Es ist das fremd Anmutende unweit unserer eigenen Alltagswelt: Spuren von Abbau, Ablagerungen, Spalten, Vegetationsreste, Spiele im Sand, Zeichen im Schotter, Spuren großer Fahrzeuge. Hier machen Bilder eine Welt sichtbar, die wir eher mit der Mondoberfläche verbinden als mit einem Steinbruch.
Jenseits der Arbeitswelt im Steinbruch startete Markus Krüger eine künstlerische Expedition, die das Ziel hatte, das Fremde im Eigenen zu erkunden. Das Experiment ist geglückt, wie die Ausstellung dokumentiert. Die Installation der Steine nimmt den sehr speziellen Blickwinkel der Photographien in ganz anderer Weise auf. Die formale Anordnung der Steine, die Markus Krüger zusammengetragen hat, stellt sinnbildlich einen Weg dar, der vom Künstler gegangen wurde. Dies ist der materielle Ausgangspunkt für das Geistige in dieser Malerei. Insofern ist das Steinfeld rückblickend für die ganze Werkphase des Künstlers ein Zeichen.
Losgelöst aus ihrem Kontext erhalten die Steine so eine Überhöhung ihres eigentlich nur materiellen Wertes – im Kontext von Kunst werden sie zu Trägern immaterieller Ideen.
Katalogtext von Tayfun Belgin zur Ausstellung „SteinZeiten“ im Kunstverein Lippstadt 1998