Bilder des Unfixierbaren
Seit 1995 verfolgt Markus Krüger eine Arbeit an der Größe der Natur, an ihrer Unfasslichkeit im Kleinen, ihrer unbegreiflichen Dauer im Momentanen, im Erleben der Spuren und Zeitschichten. Er hat sich ein Untersuchungs- und Erfahrungsfeld erschlossen, in dem die Geschichte, die unendlich vielen Geschichten der Natur sich auftun, einen Steinbruch, den er an Tagen, an denen dort nicht gearbeitet wird, erkundet – in seiner uralten Gleichgültigkeit, in den übermenschlichen Dimensionen, die hier aufbrechen, spürbar noch an den kleinsten Rissen im Stein, an den Ablagerungen des stehenden Wassers, an den Geräuschen in der Stille. Krüger versucht nicht das Unmögliche, die Natur darzustellen, sondern er bringt seine Reaktionsweisen, das Erleben von Momenten und Dauerndem, die Gespanntheit in der Stille, die Registrierungen des Unerwarteten, die Überraschung vor dem Gegebenen, vor dessen Fremdheit, ins Bild. Zunächst hatte er Beobachtungen protokolliert, flüchtige Notizen, kleine Zeichen, in unterschiedlichen Richtungen aufs Papier gebracht. Außerdem hatte er fotografiert – schwarzweiß: Spuren, Fragmente, Schatten, Lichtränder, Momente. [s.: „Markus Krüger – Steinzeiten“, Ausst.-Kat. Kunstverein Lippstadt 1998, mit einem Text von Tayfun Belgin.]
Die sensiblen Oszillationen dieser Protokolle, das augenblickliche Reagieren, das Getriebene, schnell Weitergleitende, die Markierungen von zeichenhaften Ruhepunkten – all das übertrug Markus Krüger auf seine Schriftbilder, entstanden 1996–2002, mit Tusche auf Leinwandflächen „geschrieben“, schnell, vibrierend, sich überlagernd – Spuren, die keine Korrekturen zuließen. Das Auge bewegt sich durch flimmernde Schichtungen unterschiedlicher „Schreib“-Verläufe hindurch, es findet rhythmisch sich wiederholende Zeichen , Keile, Zählstriche, und es orientiert sich an eingekreisten Ruhepunkten, bisweilen sogar an einer offenen Stelle, einem kleinen „Platz“, von dem aus der Blick gleich wieder weiter springt zu ähnlichen Zeichen. Jedes dieser Bilder hält einen eigenen Rhythmus durch, der in ihm sehr unterschiedlich zusammengewachsen ist: gleichmäßig ausfüllend, flüssig verschwimmend, bis hin zu dramatischen Kontrasten zwischen nachdrücklich weitertreibenden Strömen und sich dagegen stemmenden Verfestigungen.
Gleichzeitig entstanden Gemälde, in denen Krüger die unruhig changierende Farbigkeit seiner früheren Bilder weiterführte, die er nun aber über die gesamte Fläche ausbreitete, so dass im Bild nichts mehr abgrenzbar bleibt. Alles ist Fließen, Aufleuchten und Versinken, flimmernde Verwandlung und damit gleichzeitig Erde (Erdverschiebung ist ein Titel von 1998) und Licht. Der wellige Duktus, die immer neu ansetzenden Pinselspuren treten hervor und überführen Impulse der Schriftbilder in die Malerei. Die Unfasslichkeit, das Momentane, die Intensität des Flüchtigen bestimmen auch hier die bildnerische Thematik. Strömung, Licht, Rodung sind Titel dieser Malerei, die sich bis heute noch fortsetzt und die ihre flimmernde, aufscheinende, gerichtete und doch zugleich ruhige, von einem inneren Rhythmus gebändigte Unfasslichkeit weiterhin steigert.
Immer wieder ist Krüger vom Phänomen der Wellen fasziniert, ihrer blitzenden und rhythmischen Verbindung von Materie und Licht. In mehreren Zeichnungen bezieht er das Weiß des Papiers als positive Zwischenräume mit ein, die in die flirrenden „Wellenkämme“ eindringen und eine erstaunliche Einheit von huschender Nervosität, großzügigem Rhythmus und meditativer Zuständlichkeit herstellen. Elemente der früheren Schriftbilder und Texturen tauchen in diesen neueren Zeichnungen auf, die schnellen Impulse, die markanten Wiederholungen, die Schichtungen und die strukturelle Einheitlichkeit, die in jedem Blatt eine andere ist und jeweils mit großer Konsequenz durchgehalten wird. Doch verfließen diese Elemente in den neueren Zeichnungen mehr ineinander, wirken weniger sperrig und steigern damit erstaunlicherweise sowohl ihre Gegensätzlichkeit wie ihre Einheit. Auf einer Skizze, in der Krüger im Areal einer Auenlandschaft Verbindungsstrukturen und Landmarken festhält (ohne ihnen Festigkeit zu geben), notiert er: „Raum zwischen den Wolken / Ausschnitt aus Zeit / greifbar nah – unendlich weit / gefühlte Bewegung.“ Hier wird noch einmal deutlich, wie die Natur nicht als objektive Gegebenheit, sondern allein als subjektive Erfahrung aufgefasst wird – und wie zugleich diese Subjektivität nicht vom Persönlichen bestimmt wird, wie sie nicht auf das Emotionale oder Expressive gerichtet ist, sondern wie sie sich ganz auf das Außen konzentriert, auf Aspekte und Momente in der Natur, auf ihre unfassliche Intensität als Erlebnis.
In all diesen Protokollen, Schriftbildern, Gestaltungen von Eindrücken der Steine, der Erde, der Pflanzen, der Geräusche, des Wassers, der Wolken spielt Zeit eine zentrale Rolle. Nicht das Bleibende (das es in der Natur nicht gibt, auch wenn die Kunst, sobald sie Natur abbildet, es immer wieder anders suggeriert), sondern das kurz Aufscheinende, gerade Erlebte (wozu auch die scheinbare Dauer von steinernen Schichten gehört) wird zur bleibenden, unvergesslichen Wahrnehmung. Die Zeit, spürbar an den unterschiedlichen Arten des Wandels, gehört unmittelbar zu dem, was wir als Wald, als Wasser, als Pflanzen, als Licht erleben. In faszinierender Weise hat Krüger sie auch in die Fotografie einbezogen, die er schon seit langem neben seiner Malerei zur Erkundung des Eindrucksvoll-Flüchtigen einsetzt. Im Jahr 2002 stellte er die Kamera auf einem Stativ in einen Wald und richtete sie auf Bäume, deren Äste sich vor dem Himmel im Wind bewegten ( Zeitengang 2 ). Durch Gegenlicht und lange Belichtungszeiten zeichneten sich auf dem Schwarzweißfilm kurvige Verwischungen ab, welche die Illusion eines festgehaltenen Abbildes zu fächerartigen Strömen verwandeln und die aufstrebenden Bewegungen der Stämme und Zweige auflösen und immateriell durchdringen. Die rhythmische Reihung dieser Fotoabzüge zu einer Sequenz erzeugt eine weitere gestaltete Unfestigkeit für den Blick, der von Bild zu Bild weitereilt, ohne dabei einen filmischen „Ablauf“ zu finden. Parallel dazu trieb Krüger mit zeichnerischen Mitteln auf Papier und mit Acryl auf Karton in vielfachen Schraffuren ganz ähnliche, sich steigernde Schwünge voran, die wieder Eindrücke der Natur in bildnerische Prozesse übertragen.
In den letzten Jahren führte Krüger einen anderen Aspekt zeitlicher Dynamik in die Fotografie ein, den einer subjektiven Veränderlichkeit und sich wandelnden Ausrichtung. In den Farbfotos der MC-Serie (2006–2010) benutzt er den Fotoapparat wie eine Videokamera und bewegt das geöffnete Objektiv innerhalb von zwei bis sechs konzentrierten Sekunden ganz gezielt in Bezug auf das Objekt – auf die Farbe. Dabei steuert er sehr genau den Lichteinfall auf der lichtempfindlichen Fläche und regelt die Verteilung der markanteren und flüchtigeren Eindrücke, ihre Verlaufsformen und ihre Anordnung im Bild. Diese visuellen Vorgänge gestaltet er ganz ohne digitale Effekte: eigentlich zeichnet er sie nur auf, er manipuliert sie nicht. „Man ist selbst mitten drin“, sagt er zum Prozess der Aufnahme. Das gilt auch für den Betrachter. So atmosphärisch, unfest und verschwommen diese Fotografien auch wirken, sie strahlen doch eine sehr bestimmte Lichterscheinung, Farbentfaltung und Helldunkelstimmung aus. Man erfährt diese Bestimmtheit nicht als Form, sondern als Bewegung, und entsprechend erkennt man weniger das gegenständliche Motiv, eine Blume, ein pflanzliches Motiv, sondern eher eine besondere Ausbreitung und Konzentration der Farbe, des räumlichen Halbdunkels, der langsamen oder rascheren, sich verdichtenden und expandierenden Vorgänge des Lichts. Was wir von der Natur erfahren, ist nichts als Erscheinung und Eindruck. Erstaunlich ist dabei, wie eindrücklich dieses Erscheinen ist, obwohl – oder gerade weil – es auf die Illusion einer objektiven Festigkeit und „Schärfe“ verzichtet.
Markus Krüger fixiert in seinen Malereien, Schriftbildern, Zeichnungen und Fotografien die Unfixierbarkeit der Natur, ihre Unfassbarkeit, ihre unendliche zeitliche Dynamik. Seine Bilder suggerieren das Unbildliche: Bewegung, Verwandlung, Fragmenthaftigkeit. In der 14-teiligen Fotoserie Zeitengang 11 von 2011 erweist sich die „gefrorene“ Ruhe, die in Krügers Bildern ganz ungewöhnlich ist, als Durchdringung vielfältiger Vorgänge: Die dunklen Formen im weißlichen Umfeld zeigen Ausgleichsprozesse zwischen Frieren und Tauen an, zwischen kristallin vereister Oberfläche und flüssiger Tiefe, in der minimale pflanzliche „Wärme“ die dünne Decke der Reifkristalle auf der Eishaut gerade eben zum Tauen bringt. Das Positive wird negativ, das Flächige räumlich, die Form wird zur Bewegung. Bei der digitalen Bildbearbeitung, die sich lediglich auf die Verfahren der analogen Fotografie beschränkt, hat Krüger bei einigen Abzügen durch Solarisation die weißlichen zu schwarzen Partien verwandelt und damit ihr Figur/Grund-Verhältnis noch einmal umgekehrt. Keine Form erscheint bleibend, jedes Sehen wird momentane, weiterreichende, den Halt verlierende und eben darin ein Erkennen findende Bewegung.
Erich Franz
(Katalogtext zur Ausstellung „Zeitengang“ im Gustav-Lübcke-Museum Hamm, 2011)